Kommentar von Gerhard Scherhorn

Wirtschaften ohne Geld? Zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und Schenkökonomie.

Kommentar zum Thema der Jahrestagung 2013 von Gerhard Scherhorn, Vorstand der VÖÖ

Wenn Geld allein oder vorwiegend über die Verteilung nichtmaterieller Güter bestimmt, wie Bildung, Gesundheit, menschliche Beziehungen, Recht, Staatsbürgertum, Umwelt, dann ist es nicht neutral, sondern unfair und korrumpiert das menschliche Urteilsvermögen. Dazu ein paar Beispiele:

  • Darf die medizinische Versorgung von der Kaufkraft des Patienten abhängig sein?
  • Darf man sich Recht kaufen können?
  • Dürfen Bildungschancen käuflich sein? Wenn ja, welche allenfalls?
  • Wie viel Ungleichheit der Einkommen und Vermögen verträgt eine Demokratie?
  • Wie frei von Zwang sollen Kaufverträge sein?
  • Darf ein Verkäufer/Berater dafür Provision bekommen, dass er bestimmte Produkte bevorzugt anbietet?
  • Ist es moralisch einwandfrei, Menschen dafür zu bezahlen, dass sie Blut oder Organe „spenden“?
  • Darf man (Staat, Unternehmen, Fluggast) das Recht kaufen können, Klimaschadgase oder gesundheitsschädliche Stoffe zu emittieren? Darf man sich von einer Umweltverschmutzung freikaufen können?
  • Darf eine Leihmutter kurz vor oder nach der Geburt des Kindes auf Erfüllung des Vertrages verurteilt werden, wenn sie vom Vertrag zurücktreten (und das Geld zurückzahlen) will, um lieber das Kind zu behalten?
  • Darf man zulassen, dass Bußgelder zu Gebühren und die Anlässe zu Kavaliersdelikten werden?
  • Ist es moralisch einwandfrei, in Zeiten des Klimawandels einen Hummer als Statussymbol zu betrachten?
  • Ist es bürgerschaftlich vertretbar, dass Arme und Reiche in getrennten Sphären wohnen und arbeiten, so dass die Gelegenheiten verschwinden, in denen Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten aufeinandertreffen?
  • Dürfen wir Product Placement, Werbung in Klassenzimmern, mit Werbung verbundenes Sponsoring dulden, nur weil öffentlichen Institutionen sonst das Geld fehlt?
  • Dürfen Lebensmittelkonzerne Kinder zu gesundheitsschädlichen Speisen und Getränken verleiten?
  • Wie steht es mit Firmenlogos in öffentlichen Gebäuden, Parks usw.? Wird unsere Lebens-welt durch Dominanz der Werbung besudelt?

Der Einwand der Unfairness weist darauf hin, dass Marktentscheidungen keine freien Entscheidungen sind, „wenn manche Menschen elend arm oder nicht in der Lage sind, auf einer fairen Grundlage zu verhandeln.“ Das Argument der Korruption bezieht sich „auf die moralische Bedeutung der Güter, die […] durch die Bewertung und den Austausch auf Märkten herabgewürdigt werden.“ Es kann auch nicht „durch Einführung fairer Verhandlungsbedingungen aus der Welt geschafft werden. Selbst in einer gerechten Gesellschaft gäbe es immer noch Dinge, die für Geld nicht zu haben sein sollten.“ (Sandel 2012: 140f)

„Am Ende läuft die Frage nach den Märkten also auf die Frage hinaus, wie wir zusammen leben wollen.“ (Sandel 2012: 250) Für die Ökonomie bedeutet das, dass sie die Märkte nicht moralisch indifferent betrachten darf. Sie darf weder die externen Kosten aus der mikroökonomischen Analyse ausklammern noch die moralischen Wirkungen des Angebots aus der Wirtschaftspolitik.

  • Sandel, Michael J. (2012): Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes. Berlin.